Als ich am Satyagraha House ankomme, liegt ein Tag Johannesburg hinter mir. Viele Eindrücke, viel Staunen über Farben, Geräusche, Menschen. Aber auch viel Chaos, Gedränge und Unruhe. Ich bin überreizt, müde und umso positiver überrascht, als ich eintrete: Diese Stille.
Im Innenhof riecht es nach Gras und Blumen, hier blinkt und tutet nichts, hier zwitschern Vögel und zirpen Grillen. Dabei sind wir mitten in der Stadt.
Ich merke sofort, wie mein Körper anfängt, sich zu entspannen.
Gandhis ehemaliges Wohnhaus ist heute ein Hotel, aber seine Lebensprinzipien werden hier weiter umgesetzt. Das Essen ist vegetarisch und wächst im Garten.
Alles ist aus Naturmaterial und von lokalen Handwerkern gebaut. Das Haus ist komplett minimalistisch eingerichtet und genau das macht es so schön. Das Denken wird nicht durch Schnickschnack belastet, sondern hat Raum.
Die weißen Gardinen lassen das Tageslicht ein, man steht mit der Sonne auf und geht mit ihr zu Bett.
Das Haupthaus ist umgeben vom Garten, in dem man gut Ruhe zum Nachdenken finden kann.
Hier hat Gandhi Rat gesucht, wenn er nicht weiterwusste.
Hier kam er zu der Erkenntnis, dass es in solchen Situationen das Beste ist, erstmal anderen zu helfen. Dann ergibt sich der eigene Weg ganz automatisch. Hier hat er erkannt, dass er gegen Rassentrennung und Ungerechtigkeit kämpfen will. Im Namen vieler Millionen Menschen, die täglich darunter litten.
Hier entwickelte Gandhi die Idee des zivilen Ungehorsams
Satyagraha war Gandhis eigene Wortschöpfung für seine Philosophie des passiven Widerstands, die er hier entwickelte.
Es bedeutet übersetzt das Festhalten an der Wahrheit.
Seine Ideen wuchsen hier zu großen Taten heran. Zu Aktionen, über die die ganze Welt sprach. Die Idee des zivilen Ungehorsams, die er hier gesät hat, wurde von Nelson Mandela übernommen und auch für Südafrika sehr wichtig.
Ich glaube, Ideen werden oft unterschätzt. Auch wenn sie erstmal nur so substanzlose Gebilde wie Gedanken und Worte sind, Ideen haben sehr viel Macht. Keine Stahltür, kein Soldatenheer kann sie aufhalten. Sie können Nationen regieren und Ozeane überqueren, sobald sie einmal gesäht wurden.
Sie sind außerdem unsterblich. In diesen Mauern wurden Gandhis Ideen geboren, hier regieren sie unsichtbar weiter. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass dieser Ort so viel Magie ausstrahlt.
Genau das brauche ich jetzt, denn ich bin auch gerade etwas ratlos. Mein Studium ist fertig, ich hangel mich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob, aber keinen davon würde ich gern länger machen.
Mir ist, als würde ich nicht ganz reinpassen in die Berufswelt. Oder überhaupt in die Welt, denn im Moment scheint mir, als würde sie hauptsächlich von Arbeit bestimmt.
Ich erfülle nicht, was sie fordert. Jeder Job wird mir schnell zu viel. Ich habe nicht genug Kraft für die Welt der Großraumbüros, der Dauerbeschallung und des ewigen Redens mit vielen Worten und ohne Aussage.
Ich fühle mich oft wie in einem Wettrennen, für das ich zu langsam bin. Ich werde von allen Seiten überholt und das deprimiert mich so sehr, dass es mich lähmt.
„Du könntest so viel mehr aus dir machen“, blinkt in Leuchtschrift auf der Stirn derer, die beruflich erfolgreich sind. Auch wenn sie das natürlich nie sagen.
Mehr aus mir machen würde aber auch bedeuten, jemand anders aus mir zu machen. Denn so wie ich jetzt bin, scheint mir alles so absurd. Den ganzen Tag im Büro sitzen und die Ziele eines seelenlosen Unternehmens umsetzen? Ich könnte nicht anders, als ständig in Frage zu stellen, was ich da tue.
Alle anderen scheinen diesen Drang abschalten zu können. Anders als ich brauchen sie kein Warum hinter dem, was sie tun.
Wie schaffen sie das? Die eigenen Träume vergessen, um stattdessen an denen eines anderen zu arbeiten? Ist das wirklich normal und so unumgänglich, wie immer alle sagen?
Oder ist es andersrum und die Normalen sind die Kränkesten, wie Erich Fromm es mal ausgedrückt hat?
Oder Sartre? Hatte er Recht damit, dass man sich dem Ganzen entziehen kann, wenn man nur genug will?
Würde ich Gandhi fragen, würde er vielleicht sagen, dass Festhalten an der Wahrheit auch die eigene, persönliche Wahrheit sein kann?
Was, wenn das „richtige Leben“ wie es immer alle nennen, sich für mich nicht richtig anfühlt?
Es ist nicht so, dass ich nicht arbeite, ich habe einen Reiseblog. Auch damit verdiene ich Geld.
Aber passt das zu mir? Will ich ein Leben lang Menschen erzählen, sie sollen nach Thailand fahren, weil die Welt dort besser ist? Ist sie das? Will ich selbst überhaupt mein Leben lang weit weg reisen? Manchmal scheint mir selbst das absurd. Warum muss ich immer so weit weg? Ich bin doch schon hier.
Ich rede weniger mit Kollegen, aber quasi den ganzen Tag mit dem Internet. Trotzdem habe ich das Gefühl, mehr zu verpassen, als aufzunehmen.
Selbst wenn mein Tag fünfmal so lang wäre, ich könnte trotzdem nicht alles lesen, was mir das Internet zu sagen hat.
Mein größter Zweifel ist aber, ob es meine Stimme braucht.
Schon wenn ich in größeren Gruppen bin, an einem Tisch redender Menschen, verstumme ich. Wenn die anderen so gern das Reden übernehmen, vielleicht heißt das, dass sie lieber sich selbst hören als mich?
Genauso geht es mir im Internet. Soll ich meine Stimme erheben, wenn sie doch nur untergeht? So viel ist schon gesagt worden von anderen, was bleibt da noch, was ich beitragen kann?
Ist die Welt zu laut oder ich zu leise?
Es hat lange gebraucht, bis ich verstanden habe; ich habe nicht nur ein Zuwenig an Energie, sondern ein Zuviel an Wahrnehmung.
Meine Wahrnehmung ist nicht abschaltbar, Eindrücke prasseln ständig ungefiltert auf mich ein. Was an anderen völlig vorbeigeht, macht mich fertig. Ein ständig dudelndes Radio, ein ewig sabbelnder Kollege.
Die Orte, an denen ich mich wohl und richtig fühle, sind Gärten, Wiesen oder Wälder. Oder meine eigene Wohnung, mit weißen Wänden, Pflanzen, einem Tisch und einem Bett.
In einem Garten wird meine größte Schwäche plötzlich zur Stärke. Ich setze mich ins Gras und fühle mich von den ganz wenigen Dingen, die hier passieren, bestens unterhalten. Eine Raupe kommt vorbei, ein Käfer erklimmt einen Halm, ein Blatt segelt vom Baum ins Gras. Ich bin selig.
Alles, was ich sehe, macht Sinn, ist Teil eines Großen und Ganzen, ergänzt und bedingt sich. Vielleicht ist es genau das, was mir fehlt. Ein sinngebendes großes Ganzes. Ich fühle mich oft so verloren, so orientierungslos.
Hier draußen hat kein Krabbelkäfer Sinnkrise und jede Ameise kennt ihren Weg. Alle tun genau das, wozu sie geschaffen sind. Wenn ich das bloß wüsste. Die indische Philosophie sagt, dass wir auf diese Welt etwas mitbringen und eine bestimmte Aufgabe haben.
Das würde ich so gern glauben. Immerhin hat Gandhi seine Aufgabe eindeutig gefunden. Warum kenne ich meine nicht? Hatte ich in 30 Jahren nicht genug Zeit, sie zu finden? Sind mir die Sinne so verwirrt worden, dass ich sie nicht mehr sehe?
Ist die Welt um mich zu laut geworden, als dass ich meine eigene Stimme noch hören könnte?
Geht sie mir in der ständigen Besorgnis unter, dass ich arbeiten und Geld verdienen muss?
Ich finde sie immer ein bisschen wieder, wenn ich so nichtstuend im Garten sitze; meine eigene Wahrheit.
Bäume und Blumen lassen mich meine kreativen Flügel ausbreiten. So wie Pflanzen ganz von selbst dem Licht entgegen wachsen, wächst in mir die Lösung für das verworrendste Problem.
Kein Wunder, dass so viele alte Künstler nur in ihrem Garten kreativ sein konnten.
Schon Kant glaubte, dass alles Schöne wie eine Erinnerung an unser bessere Ich ist. Wenn wir eine Blume sehen, werden wir an das Gute in uns erinnert.
Ein Garten füttert das Gute in uns, bis wir das Schlechte besiegt haben.
Platon glaubte, dass Natur und Kunst uns Wahrheiten zuflüstern und dass wir immer die hören, die wir am dringendsten brauchen.
Vielleicht hat Gandhi genau so zu seiner Aufgabe gefunden?
Vielleicht brauchen auch Gedanken die richtige Umgebung zum Wachsen.
Und vielleicht findet man seine sinnvollste Idee dann, wenn sie auch für andere Sinn macht? So wie Gandhis.
Wenn es irgendetwas gibt, was ich sinnvoll finde, dann der Gedanke, dass noch viele Generationen nach mir in einem Garten sitzen und nachdenken können. Dass sie Trost im Rauschen der Baumkronen finden können. Dass sie auf langen Waldspaziergängen Ruhe finden und ihre eigene Stimme wieder hören.
Vielleicht macht es für mich am meisten Sinn, genau darüber zu schreiben.